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Kolonialverbrechen in Südwestafrika? Das Westfälische Volksblatt in Paderborn über den Aufstand der Herero und Nama

„An den heutigen Maßstäben des Völkerrechts gemessen war die Niederschlagung des Herero-Aufstands ein Völkermord.“[1] Diese Worte schrieb der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert 2015 in einem Beitrag für die ZEIT. Dabei bezog er sich auf die Niederschlagung des Herero- und Nama-Aufstands in den Jahren 1904 bis 1908, vor mittlerweile fast 120 Jahren. Das Deutsche Kaiserreich als europäischer „Spätzünder“ in Sachen Kolonialherrschaft besaß zu diesem Zeitpunkt einige Kolonien in Afrika und der Südsee. In Südwestafrika, dem heutigen Namibia, rebellierten die Indigenen gegen die deutsche Kolonialmacht. Bei der Niederschlagung des Aufstandes verloren je nach Berechnung bis zu 80.000 Herero und Nama ihr Leben.

Aktueller denn je: Postkoloniale Studien und Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit

Mit der Anerkennung dieses Verbrechens als Völkermord tat sich die Bundesrepublik lange schwer: Zwar gab es seit der Unabhängigkeit Namibias im Jahre 1990 sogenannte „entwicklungspolitische Sonderbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Namibia“[2], diese gingen jedoch über umfangreiche Entwicklungshilfegelder nicht hinaus und verstanden sich dezidiert nicht als Entschädigung. Eine juristisch verpflichtende Anerkennung der Verbrechen als Völkermord steht also bis heute aus, obwohl Historiker*innen sich mehrheitlich einig sind, dass das Vorgehen der ‚Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika‘, wie die offizielle Bezeichnung für die Kolonialtruppe lautete, die Bedingungen eines Genozids erfüllte.[3] Stattdessen kam es im Jahre 2021 zu einem Aussöhnungsabkommen zwischen der deutschen Bundesregierung und der Regierung Namibias, dessen zentraler Inhalt die Einigung über den beidseitigen Umgang mit der gemeinsamen Vergangenheit darstellt und in deren Folge die deutsche Regierung die Ereignisse nunmehr „ohne Schonung und Beschönigung“ als Völkermord bezeichnen will.[4] Was aber wussten die Bewohner des Deutschen Kaiserreichs, z.B. in der Paderborner Provinz, von den Vorkommnissen auf dem afrikanischen Kontinent? Welche Position nahm die Presse dem Krieg gegenüber ein?

Das Westfälische Volksblatt dominierte die Paderborner Presselandschaft

Das  „Westfälische Volksblatt“ (WV) versorgte seit 1849 die Paderborner Bevölkerung mit Informationen, zunächst als wöchentliche Beilage zum ein Jahr zuvor gegründeten „Westfälischen Kirchenblatt für Katholiken“.[5] Das dezidiert katholische Blatt wurde redaktionell geleitet von Joseph Honcamp, einem Zögling des Verlagsgründers Ferdinand Schönigh, und erschien in den 1890er Jahren bis zu dreimal täglich. Es propagierte die Politik der Zentrumspartei, die als eine der größten Parteien des Kaiserreichs den politischen Katholizismus vertrat.[6] Wie berichtete das katholische Blatt über die Ereignisse fernab in der südwestafrikanischen Kolonie?

Ausbruch des Aufstands – Deutschland ‚trifft auch Schuld‘

Bereits vor Beginn des Aufstandes der Herero unter Samuel Maharero im Januar 1904 gab es im Süden der Kolonie Unruhen, die von den dort ansässigen Bondelswart-Nama ausgingen, doch relativ schnell von der Schutztruppe unter Kontrolle gebracht wurden. Schon damals berichtete das WV von den Kämpfen. Am 13. November 1903 erschien ein großer Artikel auf der Titelseite des Zweiten Blattes, mit einer Karte, auf der die Siedlungsgebiete der in der Kolonie beheimaten Volksstämmen dargestellt waren. Es bestand also ein reges Interesse an den Vorkommnissen in der Kolonie. Die Tendenz der Berichterstattung wurde schon zu Beginn klar: Es sei wichtig, „Eigentum und Leben unserer Kolonisten gegen die räuberischen Eingeborenen zu schützen“.[7] Offenbar seien die „Einwohner dieser unserer Kolonie doch noch nicht ohne weiteres deutschtreue Untertanen geworden“.[8] Auf der Karte waren deutlich die großen Siedlungsgebiete der Herero im Zentrum des Landes und der Nama im Süden zu sehen. Nach Gründen für den Aufstand wurde sehr wohl gefragt, wobei die Redaktion die Informationslage als eher dürftig empfand. Man sei zumeist auf englische Quellen angewiesen und werde die weitere Entwicklung kritisch im Auge behalten.

Der Beginn des Völkermords – Der lange nicht thematisierte Vernichtungsbefehl

In der Tat enthielt die Berichterstattung durchaus Kritik: in verdächtig häufigen Fällen hätten „deutsche Kolonisatoren schwer über die Stränge gehauen […], sich schwer an der eingeborenen Bevölkerung versündigt“[9], merkte das Blatt bereits im März 1904 an. Allerdings wurde der für den folgenden Völkermord entscheidende Vernichtungsbefehl des Generals Lothar von Trotha vom 2. Oktober 1904 erst ein dreiviertel Jahr später, am 17. August 1905, im WV thematisiert. Bis dahin bestand der Großteil der Berichtserstattung im WV aus kurzen Meldungen über Truppenbewegungen, Gefechte und die regelmäßige Übermittlung der Namen von gefallenen Soldaten. Einen persönlicheren Eindruck bekamen die Leser vor allem durch im WV erwähnte oder sogar im Wortlaut abgedruckte Briefe, die von Soldaten oder auch Siedlern direkt aus der Kolonie in die Heimat geschickt wurden. In der Ausgabe vom 20.12.1904 wird zum Bespiel von „zahlreichen Briefen“ geschrieben, die allesamt über „traurige Zustände“ in der Kolonie berichteten. Dabei ging es um die schlechte Ausstattung mit „Klamotten“, welche monatelang getragen werden mussten, immer kleiner werdende Essensrationen und den Kampf mit Frost während der Nächte unter freiem Himmel sowie „Hitze von 50 bis 60 Grad“ am Tag.

Die Nachrichtenlage schien sich dabei für die Redaktion eher noch zu verschlechtern: Heimkehrende Offiziere hätten Befehl erhalten, „keine Nachrichten über die Kriegslage zu veröffentlichen“[10]. Am 21. Mai 1905 konnte man immerhin eine Bekanntmachung des Generals v. Trotha an die Namaquastämme abdrucken, die über die britische Kolonie Südafrika der englischen Times zugetragen worden war und von dort den Weg nach Deutschland gefunden hatte. Der Abdruck erfolgte jedoch kommentarlos. In dieser Proklamation war von der Ausrottung aller Rebellen die Rede und der Erschießung derjenigen Aufständischen, die auf „deutschem Gebiet“ blieben.

Erst bei der nachträglichen Veröffentlichung des Vernichtungsbefehls von Trothas am 17. August 1905, die im Wortlaut abgedruckt wurde, brachte das WV eine kritische Kommentierung der Ereignisse in Südwestafrika. Dieser Befehl wurde dabei bereits im Dezember 1904 auf direkten Befehl Kaiser Wilhelms II.[11] und im Januar 1905 durch den Reichskanzler Bernhard von Bülow[12] zurückgenommen, ohne dass es bis dahin großen Aufruhr in der Presse gegeben zu haben scheint. Die in dem Text zu Tage tretende Ausrottungspolitik, so das WV, sei keine Überraschung, sondern aus Briefen von Soldaten bereits bekannt gewesen. Angesichts der Abhängigkeit der Kolonisatoren von den indigenen Arbeitskräften wurde das Vorgehen deutlich kritisiert – eine vor allem ökonomisch argumentierende Kritik, bei der christliche Nächstenliebe keine Rolle spielte. Dann holte der Text zum Rundumschlag aus, indem er ganz grundsätzlich nach dem Sinn der Kolonialpolitik fragte, die in der Bevölkerung wenig Unterstützung erfahre. 400 Millionen Mark hätten die Kämpfe bereits gekostet. Zudem sei Trothas Kriegsführung „der einer zivilisierten Nation“[13] nicht würdig und werfe ein sehr schlechtes Licht auf die deutsche Schutztruppe, die doch ursprünglich, so kann man interpretieren, den „Wilden“ Zivilisation und Kultur bringen sollten.

Abberufung des General von Trotha – eine Notwendigkeit, die lange brauchte

Das WV berichtete zwar erst knapp ein Dreiviertel Jahr nach Verkündigung über Trothas Vernichtungsbefehl, sie war damit jedoch nicht alleine. Explizit Erwähnung findet die Proklamation in der deutschen Presse voher anscheinend nicht. In einigen Zeitungen werden jedoch Andeutungen gemacht, die den Verdacht nahe legen, dass sie mehr Informationen zur Hand hatten und unter anderem deshalb eine kritischere Betrachtung der Kriegsführung an den Tag legten.

Die in Berlin ansässige Norddeutsche Allgemeine Zeitung (NAZ), ein Sprachrohr der Konservativen Partei[14], schrieb schon in der Ausgabe vom 25.11.1904 von der Strategieänderung des Generals, er habe nun beschlossen, „die Herero nicht aus dem Sandfeld herauszulassen und sie in diesem der Vernichtung preiszugeben“[15]. Gewollt oder ungewollt hatte die NAZ somit zwar den im Gange befindlichen Völkermord angedeutet, ihn jedoch nicht weiter thematisiert. Auch scheinen kaum Reaktionen der sonstigen deutschen Presse auf diesen Artikel der NAZ gefolgt zu sein. Nur die „Vorwärts“, die als Parteizeitung der Sozialdemokraten der zeitgenössischen Parteilinie folgend eher kritisch gegenüber der deutschen Kolonialpolitik eingestellt war, sah in den offiziellen Berichten Beweise für eine regelrechte „Menschenjagd“ nach Vorbild der Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes in China im Jahre 1900 und benannte dies bereits im November 1904.[16] Ebenso erwähnte die „Vorwärts“ bereits im Oktober 1904, also in unmittelbarer Folge des Vernichtungsbefehls, dass der General von Trotha das Veröffentlichen von Informationen über den Feldzug unter Strafe gestellt habe.[17] Dies fand im WV bekanntlich erst im Mai des Folgejahres Erwähnung.

Nachdem seine Proklamation in der breiten deutschen Öffentlichkeit bekannt geworden war, geriet General v. Trotha unter zunehmenden Druck. Auch in der Ausgabe des WV vom 20. August 1905 wurde ihm vorgeworfen, er richte die Kolonie zu Grunde. Seine Abberufung sei nur eine Frage der Zeit. Milde gegenüber den Aufständischen als notwendigen Arbeitskräften sei dringend geboten. Am 14. September 1905 machte das Blatt zudem deutlich, dass die Kolonialpolitik in Südwestafrika von der Zentrumspartei lediglich mitgetragen worden sei, um die Eingeborenen zu Christen zu machen. Ihre Ausrottung sei deshalb auf keinen Fall zu billigen [Bild 4: Ausgabe vom 14.09.1905]. Nachdem der bisherige Gouverneur Theodor Leutwein aufgrund seiner Meinungsverschiedenheiten mit General von Trotha bereits im November 1904 sein Amt hatte niederlegen müssen, trat mit Friedrich von Lindequist ein Jahr später ein erfahrener Nachfolger an. Dieser stellte jedoch eine einzige Bedingung für seinen Amtsantritt: Neben der Tätigkeit des Gouverneur wollte er ebenso das Amt des Befehlshabers der Schutztruppe erhalten, welches bis dato General von Trotha inne gehabt hatte. Man gab seiner Forderung statt, sodass im November 1905 der in Ungnade gefallene General von Trotha seines Amtes enthoben wurde. Er musste ins Deutsche Reich zurückreisen.[18]

Mal mehr, mal weniger kritisch – das ambivalente Westfälische Volksblatt

Das Westfälische Volksblatt bewertete die Vorkommnisse in Deutsch-Südwestafrika also durchaus zwiespältig. Einerseits kritisierte es schon zu Beginn des Aufstandes die deutsche Kolonialpolitik, mahnte Fehler auf deutscher Seite an und stellte den Kolonialbesitz grundsätzlich in Frage. General v. Trotha als Verantwortlicher wurde andererseits erst dann explizit kritisiert, als sein politisches Ende bereits absehbar war – obgleich das Blatt für sich in Anspruch nahm, durch private Briefe schon viel früher informiert gewesen zu sein. Im Vordergrund seiner Argumentation stand der Erhalt der kolonialen Landwirtschaft und Ökonomie, teilweise auch die Sorge um eine mögliche Beschädigung des deutschen Ansehens in der Welt sowie einen Verlust von zu bekehrenden Seelen im Sinne der Mission. Um das Leben der Menschen im heutigen Namibia um ihrer selbst willen ging es dem WV nicht.

Mit seiner Berichtserstattung lag das WV im klassischen konservativen Lager, das zu Beginn noch für die bedingungslose Niederschlagung des Aufstandes argumentierte, mit der Zeit jedoch die Kritik an der Kolonialpolitik steigerte und Fehler auf deutscher Seite ansprach. Andere Zeitungen wie das sozialdemokratische „Vorwärts“ sparten noch weniger mit Kritik. Selbst die regierungsnahe NAZ agierte kritischer als das WV, welches zwar die NAZ häufig in ihren Artikeln zitierte, sich dabei aber anfangs anscheinend auf die eher unkritischen Berichte beschränkte, in denen eine klare Abgrenzung von Tätern (Herero und Nama) und Opfern (deutsche Siedler) stattfand. Tiefergehende Kritik an den öffentlich kommunizierten Gründen für den Ausbruch des Hereroaufstandes und der folgenden Kriegspolitik erschien im WV somit vorzugsweise ab dem Moment, in dem die Missstände bereits zu großen Teilen offenkundig waren und von Teilen der Presse bereits behandelt worden waren.


[1] Bundestagspräsident Lammert nennt Massaker an Herero Völkermord, in: Die Zeit, 08.07.2015, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-07/herero-nama-voelkermord-deutschland-norbert-lammert-joachim-gauck-kolonialzeit (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[2] Völkermord an Herero und Nama: Abkommen zwischen Deutschland und Namibia, in: kurz&knapp, Bundeszentraler für politische Bildung, 22.06.2021, https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/335257/voelkermord-an-herero-und-nama-abkommen-zwischen-deutschland-und-namibia (zuletzt aberufen am 29.09.2023).

[3] Schlüter, Jan-Philippe; Habermalz, Christiane: Verbrechen an den Hereros und den Namas. Ringen um die Anerkennung der deutschen Schuld, in: Deutschlandfunk Kultur, 20.12.2017, https://www.deutschlandfunkkultur.de/verbrechen-an-den-hereros-und-den-namas-ringen-um-die-100.html (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[4] Deutschland erkennt Kolonialverbrechen als Völkermord an, in: Die Zeit, 28.05.2021, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-05/kolonialismus-deutschland-namibia-voelkermord-herero-nama-anerkennung (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[5] Grabe, Wilhelm: Westfälisches Volksblatt, Paderborn 2019, https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/titleinfo/6898109 (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[6] Ebd.

[7] Westfälische Volksblatt, 13.11.1903.

[8] Ebd.

[9] Westfälische Volksblatt, 30.03.1904.

[10] Westfälisches Volksblatt, 19.05.1905.

[11] Brehl, Medardus: Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur, Leiden 2007, S. 98.

[12] Zimmerer, Jürgen: Trotha, Lothar von, in: Neue Deutsche Biographie. S. 455f, online verfügbar über: https://www.deutsche-biographie.de/sfz134051.html#ndbcontent (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[13] Westfälisches Volksblatt, 17.08.1905.

[14] Fischer, Heinz-Dietrich: Deutsche Allgemeine Zeitung, Berlin (1861 – 1945), in: Fischer, Heinz-Dietrich (Hg.): Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts, München 1972, S. 273.

[15] Rolka, Michael: Der Hereroaufstand in der zeitgenössischen deutschen Presse, Duisburg-Essen 2012, S. 95.

[16] Ebd. S. 93

[17] Ebd. S. 93.

[18] Nuhn, Walter: Sturm über Südwest: der Hereroaufstand von 1904 : ein düsteres Kapitel der deutschen kolonialen Vergangenheit Namibias, Michigan 1989, S. 309.