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(K)ein gewöhnlicher Ausflug in die Senne – Inszenierung kolonialer Kriegsgefangener auf Fotopostkarten

Einen Ausflug in die Senne verbinden wir gegenwärtig in erster Linie mit Erholung in der Natur. Ganz anders sah es hingegen in der Anfangszeit des Ersten Weltkrieges vor fast 110 Jahren aus. Stand in jener Zeit ein Ausflug in der Senne an, lockte die Ausflügler ein gänzlich anderes „Motiv“ in diese Gegend.

Kriegsgefangenenlager Sennelager als Attraktion

Am Garnisonsstandort Sennelager bei Paderborn wurde nach Beginn des Ersten Weltkriegs ein Kriegsgefangenenlager errichtet. Unter den vielen tausend Gefangenen, die im Verlauf des Krieges interniert wurden, befanden sich auch Soldaten aus den britischen und französischen Kolonien, z.B. aus dem heutigen Algerien oder Marokko. Diese Kriegsgefangenen übten eine enorme Anziehungskraft auf einheimische Zivilisten aus.

„Das bunte Bild, das gegenwärtig das Kriegsgefangenenlager in der Senne bietet, bildet sonn- und wochentags das Ziel vieler Tausende von Neugierigen.“[1]

Sie versammelten sich in Scharen, um einen Blick auf die „Exoten“ in ihren typischen Uniformen und mitunter auch Landestrachten zu werfen.[2] Zahlreiche Fotografien der Gefangenen verbreiteten sich im gesamten Kaiserreich und avancierten in kurzer Zeit zu beliebten Motiven für Fotopostkarten[3]− eine große Sammlung davon befindet sich heute im Paderborner Stadt- und Kreisarchiv.

Wie nahm die Bevölkerung die gefangener Kolonialsoldaten wahr und welche Rückschlüsse auf das Wissen und Denken der Menschen in Paderborn können wir aus den Abbildungen ziehen? Exemplarisch hierfür möchte ich zwei Karten aus der umfangreichen Sammlung unter die Lupe nehmen.

„Die WhatsApp des 20. Jahrhunderts“

Bildpostkarten sind damals wie heute industriell vervielfältigte Massenartikel. Im Gegensatz zu heute waren sie zur Zeit des Ersten Weltkrieges Kommunikationsmittel für breite Bevölkerungsschichten[4], sozusagen die „WhatsApp des 20. Jahrhunderts“. Im Vergleich zum sonst gebräuchlichen Brief boten sie eine Fülle an Vorteilen: Sie waren preisgünstiger, schnell geschrieben und wurden auch schneller befördert. Besonders beliebt waren Fotografien als Motive, erlaubten sie es doch, für wenig Geld modische Bilder zu erwerben.[5] Sogar als Sammelobjekt konnten die Postkarten dienen:

„Auch als Sammelobjekt wurden vor allem Ansichtskarten sehr bald beliebt. Ganze Postkartenalben wurden gefüllt […]. Je nach Sammlungsmotivation waren die Karten in den Alben auf unterschiedlichste Weise angeordnet. Von topografischen und thematischen über chronologische Ordnungen findet man heute eine große Varianz in den Alben. Bereits in den 1890er Jahren wurde dieser Sammelsport organisiert und es entstanden Vereine, die den Sammlern einen Austausch von Ansichtskarten ermöglichten und die häufig eigene Zeitschriften zu Ansichtskarten und dem Sammeln derselben herausgaben. […].“[6]

Fotopostkarte von Walter Müller (1915)

Die Ansichtsseite der Postkarte datiert aus dem Jahr 1915 und stammt vom Paderborner Atelierfotografen und Postkartenproduzenten Walter Müller. Sie zeigt überwiegend kriegsgefangene Franzosen und Angehörige verschiedener französischer Kolonialtruppen. Vereinzelt sind aber auch Kriegsgefangene anderer Nationen abgebildet. Im Hintergrund sehen wir neugierige Ausflügler, Männer wie Frauen, hinter einem Stacheldraht stehend. Ein deutscher Wachsoldat steht bewaffnet mit aufgestecktem Bajonett in oberster Reihe zwischen den französischen Kriegsgefangenen. Die ordnende Hand des Berufsfotografen merkt man der Aufnahme an. Dafür spricht die symmetrische Anordnung der abgebildeten Soldaten und ihr in die Kamera gerichtete Blick. Die vorliegende Postkarte wurde nachträglich koloriert, eine günstigere Variante in Schwarz-weiß wurde ebenfalls angeboten.[7] Die nachträgliche Kolorierung unterstreicht den „exotischen“ Charakter und damit die Fremdheit der Gefangenen. Zudem enthält sie die Bildunterschrift G.m.b.H.[8] in deutscher Kriegsgefangenschaft die Abkürzung wurde anscheinend in satirischer Absicht verwendet, wie für die Zeit üblich. Die Verwendung solcher humoristischen Mittel zielt stets auf die Verunglimpfung des Gegners. Die Karte ist heutzutage noch im Internet zu erwerben, was auf eine weite Verbreitung und auf große Popularität schließen lässt.

Fotopostkarte Wilhelm Metze (1915)

Dieses Gruppenportrait in Schwarz-Weiß, fotografiert von Wilhelm Metze, datiert ebenfalls aus dem Jahr 1915. Der Fotograf übernahm bereits im Jahr 1913 ein Atelier in Neuhaus-Senne, während sich sein Hauptgeschäft in Bielefeld befand.[9] Im Gegensatz zum Müller-Motiv sind hier ausschließlich französische Kriegsgefangene zu sehen. Einer von ihnen steht in der Mitte und wird von seinen Kameraden aus den französischen Kolonien Nord- und Westafrikas umgeben. Auch sie sind in der typischen symmetrischen Anordnung eines Gruppenportraits abgelichtet worden, jedoch ohne Bildunterschrift. Sie halten sich in einer Hofanlage ohne Stacheldraht auf, was auf einen Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers schließen lässt. Die Männer wirken selbstbewusst und zum Teil gut gelaunt. Auffällig ist eine schaulustige Frau hinter den Soldaten, bei der es sich um die Auftraggeberin oder eine Angehörige des Auftraggebers handeln könnte. Dass dieses Motiv nach eigener Recherche nicht anderweitig aufzufinden ist, könnte auf einen Sonderauftrag hinweisen, d.h. die Karte wurde wohl nur in kleiner Auflage gedruckt.[10]

Die Produktion von Fotopostkarten stellte einen wichtigen Erwerbszweig von Berufsfotografen dar, die die Lukrativität der „exotischen“ Motive im Gefangenenlager erkannten. Neben professionellen Berufsfotografen hielten aber auch private Hobbyfotografen, die es sich finanziell leisten konnten, das Geschehen auf ihren Fotoapparaten fest.[11] Die große Beliebtheit solches voyeuristischen  Bestaunens des „Fremden“, das schamlos-neugierige Beäugen ist aus unserer heutigen Wahrnehmung heraus nur schwer nachvollziehbar. Es wird verständlicher, wenn man sich den Zeitgeist des Kaiserreichs vor Augen führt.  

Zeitgeist und Medienlandschaft der wilhelminischen Gesellschaft

Militaristisches und koloniales Gedankengut waren schon lange vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der wilhelminischen Gesellschaft weit verbreitet. Völkerschauen, in denen „exotische“ Menschen als lebende Ausstellungsobjekte präsentiert wurden, sind für viele Städte, unter ihnen auch Paderborn, schon ab ca. 1830 nachweisbar. Fast alle Deutschen, egal aus welcher Schicht und Altersstufe, dürften einmal eine solche Völkerschau erlebt haben, die immer auch darauf abzielte, den Schaulustigen den „kolonialen Blick“ zu vermitteln, der die Bestätigung und Vergewisserung der eigenen kulturellen Überlegenheit zu Ziel hatte. [12]

„Jede Darstellung des Eigenen entsteht immer vor dem Hintergrund eines gedachten Anderen, vom dem sich das Eigene abzusetzen versucht. Unter den Bedingungen eines Krieges bekommt diese Unterscheidung besondere Bedeutung.”[13]

Zur Entstehungszeit der beiden Postkarten war die Tatsache, dass die Entente-Mächte an der Westfront auch Kolonialtruppen einsetzten, ein großes Thema in der deutschen Medienlandschaft. Wurden sie zunächst noch als Kuriosum belächelt, verurteilte man ihren Einsatz spätestens dann aufs Schärfste, als sie als Besatzer ins Rheinland einmarschierten.[14] Aber schon während des Krieges wurde der Einsatz der Kolonialtruppen von vielen Medien als Ausdruck eines Krieges aller Völker gegen das Deutsche Kaiserreich gedeutet. Solche Interpretationen in Zeitungen, die noch ohne Abbildungen auskommen mussten, wurden durch die bunten Fotopostkarten ergänzt. Sie stellten mit ihren Abbildungen visuell dar, was sonst nur in schriftlicher und mündlicher Form erfahrbar war: die Vielfalt der Kriegsgefangenen aus aller Welt, am besten der „Exoten“, sollten das Narrativ vom Krieg aller Völker gegen das Deutsche Kaiserreich belegen. Diese Gegner aus aller Welt saßen nun gefangen im Sennelager nahe Paderborn, überwacht von der „zivilisierten“ deutschen Armee, die über kurz oder lang den Sieg über diese „Barbaren“ davontragen würde – diese Botschaft transportierten die Postkarten für die Zeitgenossen überdeutlich.

Markus Köster bringt die tiefe Bedeutung, die solchen Bildern innewohnt, überzeugend auf den Punkt:

Bilder sind eben nicht einfach Abbildungen der Realität, sondern inszenieren und interpretieren diese in zielgerichteter Weise. […] Die Art der Darstellung von Ereignissen, Menschen und Objekten, die Formen, in denen Bilder verwendet, präsentiert, rezipiert und überliefert werden, all das gibt demnach Auskunft über Selbst- und Fremdbilder, Normen, Wertvorstellungen und Tabus in Gesellschaften. Das gilt auch für die visuellen Repräsentationen des Fremden, des Exotischen, des Kolonialen. Auch sie folgen festen Bildprogrammen, gleichsam visuellen Mustern in den Köpfen, und kreieren diese auch. Sie definieren über die Darstellung des Anderen das Eigene und dienen so der sozialen Selbstvergewisserung von Gesellschaften.[15]


[1] Kriegsgefangenenlager Sennelager | Dortmund postkolonial (2023). Online verfügbar unter: http://www.dortmund-postkolonial.de/?page_id=3382 (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[2] Die Zurschaustellung „exotischer“ Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg stellt selbstverständlich kein exklusives Phänomen in der Menschheitsgeschichte dar. Man denke z. B. an die Triumphzüge im alten Rom der Antike.

[3]Gaidt, Andreas: Die Liborikirmes, in: Gaidt, Andreas; Grabe, Wilhelm; Rade, Hans Jürgen: 500 Jahre Libori, Paderborn 2023, S. 160.

[4] Brocks, Christine: Die bunte Welt des Krieges. Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg; 1914 – 1918, Essen 2008, S.20.

[5] Brocks, Christine: Bildquellen der Neuzeit, Essen 2012, S.67 f.

[6] Anna Spiesberger, Postkarten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde. Online verfügbar unter: https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde/archivaliengattungen/bilder/postkarten (zuletzt aberufen am 29.09.2023)

[7] Gaidt, Andreas: Die Liborikirmes, in: Gaidt, Andreas; Grabe, Wilhelm; Rade, Hans Jürgen (Hg.): 500 Jahre Libori, Paderborn 2023, S.161.

[8] Schon während des Ersten Weltkrieges war G.m.b.H. die Abkürzung für „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“.

[9] Gaidt: Photographen in der Gemeinde Neuhaus bis 1945. In: Die Residenz 115 (2006), S.11-50.

[10] Eine professionelle Einschätzung, die Auskunft über Fragen der Popularität verschiedener Motive und Adressaten geben kann, sind zeitgenössische Fachzeitschriften wie z.B. die Postkarte, Das Plakat, Papier- Zeitung, Der Postkarten-Markt.

[11] Köster, Markus (2021): Blicke durch den Stacheldraht – Zur visuellen Repräsentation kolonialer Kriegsgefangener in Westfalen in Fotografien und Filmaufnahmen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. In: Bischoff, Sebastian; Frey, Barbara; Neuwöhner, Andreas (Hg.): Koloniale Welten in Westfalen, S. 293.

[12] Kettlitz, Eberhardt (2007): Afrikanische Soldaten aus deutscher Sicht seit 1871. Stereotype, Vorurteile, Feindbilder und Rassismus S. 86.

[13] Köster, S. 242

[14] Kellitz. S. 104 ff.

[15] Köster, S. 291.