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Kolonialverbrechen in Südwestafrika? Das Westfälische Volksblatt in Paderborn über den Aufstand der Herero und Nama

„An den heutigen Maßstäben des Völkerrechts gemessen war die Niederschlagung des Herero-Aufstands ein Völkermord.“[1] Diese Worte schrieb der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert 2015 in einem Beitrag für die ZEIT. Dabei bezog er sich auf die Niederschlagung des Herero- und Nama-Aufstands in den Jahren 1904 bis 1908, vor mittlerweile fast 120 Jahren. Das Deutsche Kaiserreich als europäischer „Spätzünder“ in Sachen Kolonialherrschaft besaß zu diesem Zeitpunkt einige Kolonien in Afrika und der Südsee. In Südwestafrika, dem heutigen Namibia, rebellierten die Indigenen gegen die deutsche Kolonialmacht. Bei der Niederschlagung des Aufstandes verloren je nach Berechnung bis zu 80.000 Herero und Nama ihr Leben.

Aktueller denn je: Postkoloniale Studien und Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit

Mit der Anerkennung dieses Verbrechens als Völkermord tat sich die Bundesrepublik lange schwer: Zwar gab es seit der Unabhängigkeit Namibias im Jahre 1990 sogenannte „entwicklungspolitische Sonderbeziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Namibia“[2], diese gingen jedoch über umfangreiche Entwicklungshilfegelder nicht hinaus und verstanden sich dezidiert nicht als Entschädigung. Eine juristisch verpflichtende Anerkennung der Verbrechen als Völkermord steht also bis heute aus, obwohl Historiker*innen sich mehrheitlich einig sind, dass das Vorgehen der ‚Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika‘, wie die offizielle Bezeichnung für die Kolonialtruppe lautete, die Bedingungen eines Genozids erfüllte.[3] Stattdessen kam es im Jahre 2021 zu einem Aussöhnungsabkommen zwischen der deutschen Bundesregierung und der Regierung Namibias, dessen zentraler Inhalt die Einigung über den beidseitigen Umgang mit der gemeinsamen Vergangenheit darstellt und in deren Folge die deutsche Regierung die Ereignisse nunmehr „ohne Schonung und Beschönigung“ als Völkermord bezeichnen will.[4] Was aber wussten die Bewohner des Deutschen Kaiserreichs, z.B. in der Paderborner Provinz, von den Vorkommnissen auf dem afrikanischen Kontinent? Welche Position nahm die Presse dem Krieg gegenüber ein?

Das Westfälische Volksblatt dominierte die Paderborner Presselandschaft

Das  „Westfälische Volksblatt“ (WV) versorgte seit 1849 die Paderborner Bevölkerung mit Informationen, zunächst als wöchentliche Beilage zum ein Jahr zuvor gegründeten „Westfälischen Kirchenblatt für Katholiken“.[5] Das dezidiert katholische Blatt wurde redaktionell geleitet von Joseph Honcamp, einem Zögling des Verlagsgründers Ferdinand Schönigh, und erschien in den 1890er Jahren bis zu dreimal täglich. Es propagierte die Politik der Zentrumspartei, die als eine der größten Parteien des Kaiserreichs den politischen Katholizismus vertrat.[6] Wie berichtete das katholische Blatt über die Ereignisse fernab in der südwestafrikanischen Kolonie?

Ausbruch des Aufstands – Deutschland ‚trifft auch Schuld‘

Bereits vor Beginn des Aufstandes der Herero unter Samuel Maharero im Januar 1904 gab es im Süden der Kolonie Unruhen, die von den dort ansässigen Bondelswart-Nama ausgingen, doch relativ schnell von der Schutztruppe unter Kontrolle gebracht wurden. Schon damals berichtete das WV von den Kämpfen. Am 13. November 1903 erschien ein großer Artikel auf der Titelseite des Zweiten Blattes, mit einer Karte, auf der die Siedlungsgebiete der in der Kolonie beheimaten Volksstämmen dargestellt waren. Es bestand also ein reges Interesse an den Vorkommnissen in der Kolonie. Die Tendenz der Berichterstattung wurde schon zu Beginn klar: Es sei wichtig, „Eigentum und Leben unserer Kolonisten gegen die räuberischen Eingeborenen zu schützen“.[7] Offenbar seien die „Einwohner dieser unserer Kolonie doch noch nicht ohne weiteres deutschtreue Untertanen geworden“.[8] Auf der Karte waren deutlich die großen Siedlungsgebiete der Herero im Zentrum des Landes und der Nama im Süden zu sehen. Nach Gründen für den Aufstand wurde sehr wohl gefragt, wobei die Redaktion die Informationslage als eher dürftig empfand. Man sei zumeist auf englische Quellen angewiesen und werde die weitere Entwicklung kritisch im Auge behalten.

Der Beginn des Völkermords – Der lange nicht thematisierte Vernichtungsbefehl

In der Tat enthielt die Berichterstattung durchaus Kritik: in verdächtig häufigen Fällen hätten „deutsche Kolonisatoren schwer über die Stränge gehauen […], sich schwer an der eingeborenen Bevölkerung versündigt“[9], merkte das Blatt bereits im März 1904 an. Allerdings wurde der für den folgenden Völkermord entscheidende Vernichtungsbefehl des Generals Lothar von Trotha vom 2. Oktober 1904 erst ein dreiviertel Jahr später, am 17. August 1905, im WV thematisiert. Bis dahin bestand der Großteil der Berichtserstattung im WV aus kurzen Meldungen über Truppenbewegungen, Gefechte und die regelmäßige Übermittlung der Namen von gefallenen Soldaten. Einen persönlicheren Eindruck bekamen die Leser vor allem durch im WV erwähnte oder sogar im Wortlaut abgedruckte Briefe, die von Soldaten oder auch Siedlern direkt aus der Kolonie in die Heimat geschickt wurden. In der Ausgabe vom 20.12.1904 wird zum Bespiel von „zahlreichen Briefen“ geschrieben, die allesamt über „traurige Zustände“ in der Kolonie berichteten. Dabei ging es um die schlechte Ausstattung mit „Klamotten“, welche monatelang getragen werden mussten, immer kleiner werdende Essensrationen und den Kampf mit Frost während der Nächte unter freiem Himmel sowie „Hitze von 50 bis 60 Grad“ am Tag.

Die Nachrichtenlage schien sich dabei für die Redaktion eher noch zu verschlechtern: Heimkehrende Offiziere hätten Befehl erhalten, „keine Nachrichten über die Kriegslage zu veröffentlichen“[10]. Am 21. Mai 1905 konnte man immerhin eine Bekanntmachung des Generals v. Trotha an die Namaquastämme abdrucken, die über die britische Kolonie Südafrika der englischen Times zugetragen worden war und von dort den Weg nach Deutschland gefunden hatte. Der Abdruck erfolgte jedoch kommentarlos. In dieser Proklamation war von der Ausrottung aller Rebellen die Rede und der Erschießung derjenigen Aufständischen, die auf „deutschem Gebiet“ blieben.

Erst bei der nachträglichen Veröffentlichung des Vernichtungsbefehls von Trothas am 17. August 1905, die im Wortlaut abgedruckt wurde, brachte das WV eine kritische Kommentierung der Ereignisse in Südwestafrika. Dieser Befehl wurde dabei bereits im Dezember 1904 auf direkten Befehl Kaiser Wilhelms II.[11] und im Januar 1905 durch den Reichskanzler Bernhard von Bülow[12] zurückgenommen, ohne dass es bis dahin großen Aufruhr in der Presse gegeben zu haben scheint. Die in dem Text zu Tage tretende Ausrottungspolitik, so das WV, sei keine Überraschung, sondern aus Briefen von Soldaten bereits bekannt gewesen. Angesichts der Abhängigkeit der Kolonisatoren von den indigenen Arbeitskräften wurde das Vorgehen deutlich kritisiert – eine vor allem ökonomisch argumentierende Kritik, bei der christliche Nächstenliebe keine Rolle spielte. Dann holte der Text zum Rundumschlag aus, indem er ganz grundsätzlich nach dem Sinn der Kolonialpolitik fragte, die in der Bevölkerung wenig Unterstützung erfahre. 400 Millionen Mark hätten die Kämpfe bereits gekostet. Zudem sei Trothas Kriegsführung „der einer zivilisierten Nation“[13] nicht würdig und werfe ein sehr schlechtes Licht auf die deutsche Schutztruppe, die doch ursprünglich, so kann man interpretieren, den „Wilden“ Zivilisation und Kultur bringen sollten.

Abberufung des General von Trotha – eine Notwendigkeit, die lange brauchte

Das WV berichtete zwar erst knapp ein Dreiviertel Jahr nach Verkündigung über Trothas Vernichtungsbefehl, sie war damit jedoch nicht alleine. Explizit Erwähnung findet die Proklamation in der deutschen Presse voher anscheinend nicht. In einigen Zeitungen werden jedoch Andeutungen gemacht, die den Verdacht nahe legen, dass sie mehr Informationen zur Hand hatten und unter anderem deshalb eine kritischere Betrachtung der Kriegsführung an den Tag legten.

Die in Berlin ansässige Norddeutsche Allgemeine Zeitung (NAZ), ein Sprachrohr der Konservativen Partei[14], schrieb schon in der Ausgabe vom 25.11.1904 von der Strategieänderung des Generals, er habe nun beschlossen, „die Herero nicht aus dem Sandfeld herauszulassen und sie in diesem der Vernichtung preiszugeben“[15]. Gewollt oder ungewollt hatte die NAZ somit zwar den im Gange befindlichen Völkermord angedeutet, ihn jedoch nicht weiter thematisiert. Auch scheinen kaum Reaktionen der sonstigen deutschen Presse auf diesen Artikel der NAZ gefolgt zu sein. Nur die „Vorwärts“, die als Parteizeitung der Sozialdemokraten der zeitgenössischen Parteilinie folgend eher kritisch gegenüber der deutschen Kolonialpolitik eingestellt war, sah in den offiziellen Berichten Beweise für eine regelrechte „Menschenjagd“ nach Vorbild der Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstandes in China im Jahre 1900 und benannte dies bereits im November 1904.[16] Ebenso erwähnte die „Vorwärts“ bereits im Oktober 1904, also in unmittelbarer Folge des Vernichtungsbefehls, dass der General von Trotha das Veröffentlichen von Informationen über den Feldzug unter Strafe gestellt habe.[17] Dies fand im WV bekanntlich erst im Mai des Folgejahres Erwähnung.

Nachdem seine Proklamation in der breiten deutschen Öffentlichkeit bekannt geworden war, geriet General v. Trotha unter zunehmenden Druck. Auch in der Ausgabe des WV vom 20. August 1905 wurde ihm vorgeworfen, er richte die Kolonie zu Grunde. Seine Abberufung sei nur eine Frage der Zeit. Milde gegenüber den Aufständischen als notwendigen Arbeitskräften sei dringend geboten. Am 14. September 1905 machte das Blatt zudem deutlich, dass die Kolonialpolitik in Südwestafrika von der Zentrumspartei lediglich mitgetragen worden sei, um die Eingeborenen zu Christen zu machen. Ihre Ausrottung sei deshalb auf keinen Fall zu billigen [Bild 4: Ausgabe vom 14.09.1905]. Nachdem der bisherige Gouverneur Theodor Leutwein aufgrund seiner Meinungsverschiedenheiten mit General von Trotha bereits im November 1904 sein Amt hatte niederlegen müssen, trat mit Friedrich von Lindequist ein Jahr später ein erfahrener Nachfolger an. Dieser stellte jedoch eine einzige Bedingung für seinen Amtsantritt: Neben der Tätigkeit des Gouverneur wollte er ebenso das Amt des Befehlshabers der Schutztruppe erhalten, welches bis dato General von Trotha inne gehabt hatte. Man gab seiner Forderung statt, sodass im November 1905 der in Ungnade gefallene General von Trotha seines Amtes enthoben wurde. Er musste ins Deutsche Reich zurückreisen.[18]

Mal mehr, mal weniger kritisch – das ambivalente Westfälische Volksblatt

Das Westfälische Volksblatt bewertete die Vorkommnisse in Deutsch-Südwestafrika also durchaus zwiespältig. Einerseits kritisierte es schon zu Beginn des Aufstandes die deutsche Kolonialpolitik, mahnte Fehler auf deutscher Seite an und stellte den Kolonialbesitz grundsätzlich in Frage. General v. Trotha als Verantwortlicher wurde andererseits erst dann explizit kritisiert, als sein politisches Ende bereits absehbar war – obgleich das Blatt für sich in Anspruch nahm, durch private Briefe schon viel früher informiert gewesen zu sein. Im Vordergrund seiner Argumentation stand der Erhalt der kolonialen Landwirtschaft und Ökonomie, teilweise auch die Sorge um eine mögliche Beschädigung des deutschen Ansehens in der Welt sowie einen Verlust von zu bekehrenden Seelen im Sinne der Mission. Um das Leben der Menschen im heutigen Namibia um ihrer selbst willen ging es dem WV nicht.

Mit seiner Berichtserstattung lag das WV im klassischen konservativen Lager, das zu Beginn noch für die bedingungslose Niederschlagung des Aufstandes argumentierte, mit der Zeit jedoch die Kritik an der Kolonialpolitik steigerte und Fehler auf deutscher Seite ansprach. Andere Zeitungen wie das sozialdemokratische „Vorwärts“ sparten noch weniger mit Kritik. Selbst die regierungsnahe NAZ agierte kritischer als das WV, welches zwar die NAZ häufig in ihren Artikeln zitierte, sich dabei aber anfangs anscheinend auf die eher unkritischen Berichte beschränkte, in denen eine klare Abgrenzung von Tätern (Herero und Nama) und Opfern (deutsche Siedler) stattfand. Tiefergehende Kritik an den öffentlich kommunizierten Gründen für den Ausbruch des Hereroaufstandes und der folgenden Kriegspolitik erschien im WV somit vorzugsweise ab dem Moment, in dem die Missstände bereits zu großen Teilen offenkundig waren und von Teilen der Presse bereits behandelt worden waren.


[1] Bundestagspräsident Lammert nennt Massaker an Herero Völkermord, in: Die Zeit, 08.07.2015, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-07/herero-nama-voelkermord-deutschland-norbert-lammert-joachim-gauck-kolonialzeit (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[2] Völkermord an Herero und Nama: Abkommen zwischen Deutschland und Namibia, in: kurz&knapp, Bundeszentraler für politische Bildung, 22.06.2021, https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/335257/voelkermord-an-herero-und-nama-abkommen-zwischen-deutschland-und-namibia (zuletzt aberufen am 29.09.2023).

[3] Schlüter, Jan-Philippe; Habermalz, Christiane: Verbrechen an den Hereros und den Namas. Ringen um die Anerkennung der deutschen Schuld, in: Deutschlandfunk Kultur, 20.12.2017, https://www.deutschlandfunkkultur.de/verbrechen-an-den-hereros-und-den-namas-ringen-um-die-100.html (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[4] Deutschland erkennt Kolonialverbrechen als Völkermord an, in: Die Zeit, 28.05.2021, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-05/kolonialismus-deutschland-namibia-voelkermord-herero-nama-anerkennung (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[5] Grabe, Wilhelm: Westfälisches Volksblatt, Paderborn 2019, https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/titleinfo/6898109 (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[6] Ebd.

[7] Westfälische Volksblatt, 13.11.1903.

[8] Ebd.

[9] Westfälische Volksblatt, 30.03.1904.

[10] Westfälisches Volksblatt, 19.05.1905.

[11] Brehl, Medardus: Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur, Leiden 2007, S. 98.

[12] Zimmerer, Jürgen: Trotha, Lothar von, in: Neue Deutsche Biographie. S. 455f, online verfügbar über: https://www.deutsche-biographie.de/sfz134051.html#ndbcontent (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[13] Westfälisches Volksblatt, 17.08.1905.

[14] Fischer, Heinz-Dietrich: Deutsche Allgemeine Zeitung, Berlin (1861 – 1945), in: Fischer, Heinz-Dietrich (Hg.): Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts, München 1972, S. 273.

[15] Rolka, Michael: Der Hereroaufstand in der zeitgenössischen deutschen Presse, Duisburg-Essen 2012, S. 95.

[16] Ebd. S. 93

[17] Ebd. S. 93.

[18] Nuhn, Walter: Sturm über Südwest: der Hereroaufstand von 1904 : ein düsteres Kapitel der deutschen kolonialen Vergangenheit Namibias, Michigan 1989, S. 309.

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(K)ein gewöhnlicher Ausflug in die Senne – Inszenierung kolonialer Kriegsgefangener auf Fotopostkarten

Einen Ausflug in die Senne verbinden wir gegenwärtig in erster Linie mit Erholung in der Natur. Ganz anders sah es hingegen in der Anfangszeit des Ersten Weltkrieges vor fast 110 Jahren aus. Stand in jener Zeit ein Ausflug in der Senne an, lockte die Ausflügler ein gänzlich anderes „Motiv“ in diese Gegend.

Kriegsgefangenenlager Sennelager als Attraktion

Am Garnisonsstandort Sennelager bei Paderborn wurde nach Beginn des Ersten Weltkriegs ein Kriegsgefangenenlager errichtet. Unter den vielen tausend Gefangenen, die im Verlauf des Krieges interniert wurden, befanden sich auch Soldaten aus den britischen und französischen Kolonien, z.B. aus dem heutigen Algerien oder Marokko. Diese Kriegsgefangenen übten eine enorme Anziehungskraft auf einheimische Zivilisten aus.

„Das bunte Bild, das gegenwärtig das Kriegsgefangenenlager in der Senne bietet, bildet sonn- und wochentags das Ziel vieler Tausende von Neugierigen.“[1]

Sie versammelten sich in Scharen, um einen Blick auf die „Exoten“ in ihren typischen Uniformen und mitunter auch Landestrachten zu werfen.[2] Zahlreiche Fotografien der Gefangenen verbreiteten sich im gesamten Kaiserreich und avancierten in kurzer Zeit zu beliebten Motiven für Fotopostkarten[3]− eine große Sammlung davon befindet sich heute im Paderborner Stadt- und Kreisarchiv.

Wie nahm die Bevölkerung die gefangener Kolonialsoldaten wahr und welche Rückschlüsse auf das Wissen und Denken der Menschen in Paderborn können wir aus den Abbildungen ziehen? Exemplarisch hierfür möchte ich zwei Karten aus der umfangreichen Sammlung unter die Lupe nehmen.

„Die WhatsApp des 20. Jahrhunderts“

Bildpostkarten sind damals wie heute industriell vervielfältigte Massenartikel. Im Gegensatz zu heute waren sie zur Zeit des Ersten Weltkrieges Kommunikationsmittel für breite Bevölkerungsschichten[4], sozusagen die „WhatsApp des 20. Jahrhunderts“. Im Vergleich zum sonst gebräuchlichen Brief boten sie eine Fülle an Vorteilen: Sie waren preisgünstiger, schnell geschrieben und wurden auch schneller befördert. Besonders beliebt waren Fotografien als Motive, erlaubten sie es doch, für wenig Geld modische Bilder zu erwerben.[5] Sogar als Sammelobjekt konnten die Postkarten dienen:

„Auch als Sammelobjekt wurden vor allem Ansichtskarten sehr bald beliebt. Ganze Postkartenalben wurden gefüllt […]. Je nach Sammlungsmotivation waren die Karten in den Alben auf unterschiedlichste Weise angeordnet. Von topografischen und thematischen über chronologische Ordnungen findet man heute eine große Varianz in den Alben. Bereits in den 1890er Jahren wurde dieser Sammelsport organisiert und es entstanden Vereine, die den Sammlern einen Austausch von Ansichtskarten ermöglichten und die häufig eigene Zeitschriften zu Ansichtskarten und dem Sammeln derselben herausgaben. […].“[6]

Fotopostkarte von Walter Müller (1915)

Die Ansichtsseite der Postkarte datiert aus dem Jahr 1915 und stammt vom Paderborner Atelierfotografen und Postkartenproduzenten Walter Müller. Sie zeigt überwiegend kriegsgefangene Franzosen und Angehörige verschiedener französischer Kolonialtruppen. Vereinzelt sind aber auch Kriegsgefangene anderer Nationen abgebildet. Im Hintergrund sehen wir neugierige Ausflügler, Männer wie Frauen, hinter einem Stacheldraht stehend. Ein deutscher Wachsoldat steht bewaffnet mit aufgestecktem Bajonett in oberster Reihe zwischen den französischen Kriegsgefangenen. Die ordnende Hand des Berufsfotografen merkt man der Aufnahme an. Dafür spricht die symmetrische Anordnung der abgebildeten Soldaten und ihr in die Kamera gerichtete Blick. Die vorliegende Postkarte wurde nachträglich koloriert, eine günstigere Variante in Schwarz-weiß wurde ebenfalls angeboten.[7] Die nachträgliche Kolorierung unterstreicht den „exotischen“ Charakter und damit die Fremdheit der Gefangenen. Zudem enthält sie die Bildunterschrift G.m.b.H.[8] in deutscher Kriegsgefangenschaft die Abkürzung wurde anscheinend in satirischer Absicht verwendet, wie für die Zeit üblich. Die Verwendung solcher humoristischen Mittel zielt stets auf die Verunglimpfung des Gegners. Die Karte ist heutzutage noch im Internet zu erwerben, was auf eine weite Verbreitung und auf große Popularität schließen lässt.

Fotopostkarte Wilhelm Metze (1915)

Dieses Gruppenportrait in Schwarz-Weiß, fotografiert von Wilhelm Metze, datiert ebenfalls aus dem Jahr 1915. Der Fotograf übernahm bereits im Jahr 1913 ein Atelier in Neuhaus-Senne, während sich sein Hauptgeschäft in Bielefeld befand.[9] Im Gegensatz zum Müller-Motiv sind hier ausschließlich französische Kriegsgefangene zu sehen. Einer von ihnen steht in der Mitte und wird von seinen Kameraden aus den französischen Kolonien Nord- und Westafrikas umgeben. Auch sie sind in der typischen symmetrischen Anordnung eines Gruppenportraits abgelichtet worden, jedoch ohne Bildunterschrift. Sie halten sich in einer Hofanlage ohne Stacheldraht auf, was auf einen Arbeitseinsatz außerhalb des Lagers schließen lässt. Die Männer wirken selbstbewusst und zum Teil gut gelaunt. Auffällig ist eine schaulustige Frau hinter den Soldaten, bei der es sich um die Auftraggeberin oder eine Angehörige des Auftraggebers handeln könnte. Dass dieses Motiv nach eigener Recherche nicht anderweitig aufzufinden ist, könnte auf einen Sonderauftrag hinweisen, d.h. die Karte wurde wohl nur in kleiner Auflage gedruckt.[10]

Die Produktion von Fotopostkarten stellte einen wichtigen Erwerbszweig von Berufsfotografen dar, die die Lukrativität der „exotischen“ Motive im Gefangenenlager erkannten. Neben professionellen Berufsfotografen hielten aber auch private Hobbyfotografen, die es sich finanziell leisten konnten, das Geschehen auf ihren Fotoapparaten fest.[11] Die große Beliebtheit solches voyeuristischen  Bestaunens des „Fremden“, das schamlos-neugierige Beäugen ist aus unserer heutigen Wahrnehmung heraus nur schwer nachvollziehbar. Es wird verständlicher, wenn man sich den Zeitgeist des Kaiserreichs vor Augen führt.  

Zeitgeist und Medienlandschaft der wilhelminischen Gesellschaft

Militaristisches und koloniales Gedankengut waren schon lange vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der wilhelminischen Gesellschaft weit verbreitet. Völkerschauen, in denen „exotische“ Menschen als lebende Ausstellungsobjekte präsentiert wurden, sind für viele Städte, unter ihnen auch Paderborn, schon ab ca. 1830 nachweisbar. Fast alle Deutschen, egal aus welcher Schicht und Altersstufe, dürften einmal eine solche Völkerschau erlebt haben, die immer auch darauf abzielte, den Schaulustigen den „kolonialen Blick“ zu vermitteln, der die Bestätigung und Vergewisserung der eigenen kulturellen Überlegenheit zu Ziel hatte. [12]

„Jede Darstellung des Eigenen entsteht immer vor dem Hintergrund eines gedachten Anderen, vom dem sich das Eigene abzusetzen versucht. Unter den Bedingungen eines Krieges bekommt diese Unterscheidung besondere Bedeutung.“[13]

Zur Entstehungszeit der beiden Postkarten war die Tatsache, dass die Entente-Mächte an der Westfront auch Kolonialtruppen einsetzten, ein großes Thema in der deutschen Medienlandschaft. Wurden sie zunächst noch als Kuriosum belächelt, verurteilte man ihren Einsatz spätestens dann aufs Schärfste, als sie als Besatzer ins Rheinland einmarschierten.[14] Aber schon während des Krieges wurde der Einsatz der Kolonialtruppen von vielen Medien als Ausdruck eines Krieges aller Völker gegen das Deutsche Kaiserreich gedeutet. Solche Interpretationen in Zeitungen, die noch ohne Abbildungen auskommen mussten, wurden durch die bunten Fotopostkarten ergänzt. Sie stellten mit ihren Abbildungen visuell dar, was sonst nur in schriftlicher und mündlicher Form erfahrbar war: die Vielfalt der Kriegsgefangenen aus aller Welt, am besten der „Exoten“, sollten das Narrativ vom Krieg aller Völker gegen das Deutsche Kaiserreich belegen. Diese Gegner aus aller Welt saßen nun gefangen im Sennelager nahe Paderborn, überwacht von der „zivilisierten“ deutschen Armee, die über kurz oder lang den Sieg über diese „Barbaren“ davontragen würde – diese Botschaft transportierten die Postkarten für die Zeitgenossen überdeutlich.

Markus Köster bringt die tiefe Bedeutung, die solchen Bildern innewohnt, überzeugend auf den Punkt:

Bilder sind eben nicht einfach Abbildungen der Realität, sondern inszenieren und interpretieren diese in zielgerichteter Weise. […] Die Art der Darstellung von Ereignissen, Menschen und Objekten, die Formen, in denen Bilder verwendet, präsentiert, rezipiert und überliefert werden, all das gibt demnach Auskunft über Selbst- und Fremdbilder, Normen, Wertvorstellungen und Tabus in Gesellschaften. Das gilt auch für die visuellen Repräsentationen des Fremden, des Exotischen, des Kolonialen. Auch sie folgen festen Bildprogrammen, gleichsam visuellen Mustern in den Köpfen, und kreieren diese auch. Sie definieren über die Darstellung des Anderen das Eigene und dienen so der sozialen Selbstvergewisserung von Gesellschaften.[15]


[1] Kriegsgefangenenlager Sennelager | Dortmund postkolonial (2023). Online verfügbar unter: http://www.dortmund-postkolonial.de/?page_id=3382 (zuletzt abgerufen am 29.09.2023).

[2] Die Zurschaustellung „exotischer“ Kriegsgefangener im Ersten Weltkrieg stellt selbstverständlich kein exklusives Phänomen in der Menschheitsgeschichte dar. Man denke z. B. an die Triumphzüge im alten Rom der Antike.

[3]Gaidt, Andreas: Die Liborikirmes, in: Gaidt, Andreas; Grabe, Wilhelm; Rade, Hans Jürgen: 500 Jahre Libori, Paderborn 2023, S. 160.

[4] Brocks, Christine: Die bunte Welt des Krieges. Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg; 1914 – 1918, Essen 2008, S.20.

[5] Brocks, Christine: Bildquellen der Neuzeit, Essen 2012, S.67 f.

[6] Anna Spiesberger, Postkarten, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde. Online verfügbar unter: https://www.leo-bw.de/themenmodul/sudwestdeutsche-archivalienkunde/archivaliengattungen/bilder/postkarten (zuletzt aberufen am 29.09.2023)

[7] Gaidt, Andreas: Die Liborikirmes, in: Gaidt, Andreas; Grabe, Wilhelm; Rade, Hans Jürgen (Hg.): 500 Jahre Libori, Paderborn 2023, S.161.

[8] Schon während des Ersten Weltkrieges war G.m.b.H. die Abkürzung für „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“.

[9] Gaidt: Photographen in der Gemeinde Neuhaus bis 1945. In: Die Residenz 115 (2006), S.11-50.

[10] Eine professionelle Einschätzung, die Auskunft über Fragen der Popularität verschiedener Motive und Adressaten geben kann, sind zeitgenössische Fachzeitschriften wie z.B. die Postkarte, Das Plakat, Papier- Zeitung, Der Postkarten-Markt.

[11] Köster, Markus (2021): Blicke durch den Stacheldraht – Zur visuellen Repräsentation kolonialer Kriegsgefangener in Westfalen in Fotografien und Filmaufnahmen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. In: Bischoff, Sebastian; Frey, Barbara; Neuwöhner, Andreas (Hg.): Koloniale Welten in Westfalen, S. 293.

[12] Kettlitz, Eberhardt (2007): Afrikanische Soldaten aus deutscher Sicht seit 1871. Stereotype, Vorurteile, Feindbilder und Rassismus S. 86.

[13] Köster, S. 242

[14] Kellitz. S. 104 ff.

[15] Köster, S. 291.

 

 

 

 

 

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„Hier wurde für den kolonialen Gedanken nichts getan“: Die Geschichte der Deutschen Kolonialgesellschaft in Paderborn

Am 26. August 1882 wurde im Englischen Hof in Frankfurt a. M. der Deutsche Kolonialverein gegründet. Ziel dieses Vereins war es:

„Die Colonialbestrebungen im deutschen Volke zu unterstützen, insbesondere
1. den dazu geeigneten in überseeischen Ländern bestehenden deutschen Handelsfactoreien, welchen der Schutz einer civilisierten Macht nicht zur Seite steht, den nationalen Schutz zu erwirken;
2. Die zur Errichtung von Handelsfactoreien geeigneten Plätze zu ermitteln und überseeische deutsche Niederlassungen zu begünstigen, ohne selbst an dessen [sic!] Begründung theilzunehmen.“[1]

Zum Zeitpunkt der Gründung des Vereins zeigte die Regierung des Deutschen Reichs noch kein Interesse am Erwerb von Kolonien und so versuchten die interessierten Kreise auf dem Wege dieser privaten Interessensgemeinschaft, auf den Erwerb deutscher Kolonien hinzuarbeiten. Nach und nach wurden in etlichen deutschen Städten Ableger des Deutschen Kolonialvereins, der sich 1888 zur Kolonialgesellschaft umformte, gegründet; so auch in Paderborn.

Die Gründung der Kolonialgesellschaft in Paderborn

Am 2. Dezember 1891 wies der Paderborner Anzeiger darauf hin, dass nun erstmals auch in der Paderstadt ein Kolonialverein[2] seine Wurzeln geschlagen habe. Ein provisorischer Vorstand sei bereits gewählt und die erste ordentliche Versammlung am 27.11.1891 im Rathaussaal abgehalten worden. Aus demselben Artikel geht hervor, dass nach einer Begrüßungsrede von Landgerichtspräsident Ferdinand Müller der „Afrikareisende“ Dr. Neubauer mehr als eine Stunde über Deutsch-Ostafrika referiert habe, und zwar über wirtschaftliche Interessen, aber auch den Sklavenhandel in der Region, der laut Neubauer auf dem „handelspolitischen Wege ausgerottet“ werden sollte. Unter den Zuhörern war, laut dem Artikel, unter anderem auch der Paderborner Domprobst Wilhelm Studmann.[3]

Der Rathaussaal des Paderborner Rathauses um 1900. Hier hat die Paderborner Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft sowohl ihre erste ordentliche Versammlung als auch mehrere Vorträge abgehalten.

Die Deutsche Kolonialzeitung, als Organ der Deutschen Kolonialgesellschaft, berichtete zehn Tage später, in der Ausgabe vom 12. Dezember 1891, von der Gründung der Paderborner Abteilung, wobei sie die Vorstandsmitglieder noch nicht namentlich benannte.[4] Erst am 2. April des nächsten Jahres wurde Landgerichtspräsident Ferdinand Müller als erster Vorsitzender der Paderborner Abteilung benannt, als zweiter der erste Staatsanwalt Julius Müller, und als dritter Gymnasialdirektor Dr. Adolf Hechelmann vom Theodorianum. Als erster Schriftführer wird Gymnasiallehrer Dr. August Moser genannt, als zweiter Schriftführer Staatsanwalt Richard Haupt, und als Schatzmeister ein Kaufmann namens Heinrich Wiemers.[5]

In einer Übersicht zum Mitgliederbestand der Abteilungen der Deutschen Kolonialgesellschaft findet sich auch Paderborn wieder, und zwar mit 51 Mitgliedern im Jahr 1891. Diese Zahl wuchs im darauffolgenden Jahr auf 54 an, bevor sie 1893 drastisch auf nur noch 39 Mitglieder sank und sich auch bis 1895 nicht wieder erholte.[6]

Der Schrumpfungsprozess betraf auch den Vorstand: Von anfangs sechs Personen schrumpfte er im Herbst des Jahres 1893 durch Wegfall der Stellvertreter zunächst auf drei. Neuer Vorsitzender wurde der erste Staatsanwalt Julius Müller.[7] 1894 wurden dann die Ämter des Schriftführers und des Schatzmeisters zusammengelegt und vom Gründer des städtischen Reismann-Gymnasiums am Gierstor, Heinrich Reismann, übernommen.[8]

Heinrich Reismann, zweiter v. r. vorne, gründete 1888 das sog. Reismann-Gymnasium, das auch heute noch nahe des Gierstors Schüler*innen unterrichtet.

Über weitere Aktivitäten der Deutschen Kolonialgesellschaft in Paderborn wissen wir nichts. Erst 15 Jahre später, am 5. Juni 1909, berichtete die Kolonialzeitung über einen Vortrag von Hauptmann Paul Lessner in Paderborn, der am 1. März über seine Erlebnisse in Kamerun berichtet haben soll.[9] Lessner hielt ab 1905 regelmäßig Vorträge über „seine Erlebnisse in Kamerun“ in ganz Deutschland und war zeitweise Lehrer an der preußischen Militär-Turnanstalt in Berlin.[10] Danach, so scheint es, löste sich die Deutsche Kolonialgesellschaft in Paderborn auf. Denn zwischen den Jahren 1916 und 1922 wurden bundesweit Abteilungen der Kolonialgesellschaft mit unter 50 Mitgliedern zu sog. Wahlverbänden zusammengelegt, die dann nur noch zusammen eine Stimme als Wahlverband bei den Wahlen für den Bundesvorstand der Deutschen Kolonialgesellschaft hatten, anstatt der üblichen einen Stimme pro Abteilung. Dabei wurden im Frühjahr 1921 die Abteilungen Brilon, Höxter, Lippe Lippstadt, Bad Oeynhausen und Soest zum Wahlverband „Westphalen 1“ zusammengelegt. Da Paderborn in dieser Liste nicht auftaucht und nicht davon auszugehen ist, dass die Abteilung Paderborn zu diesem Zeitpunkt mehr als 50 Mitglieder hatte, liegt die Vermutung nahe, dass spätestens zu diesem Zeitpunkt keine lokale Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft in Paderborn mehr bestand.[11]

Die Neugründung der Abteilung durch den Steuerbeamten Friedrich Hunke

Eine Auflösung der Paderborner Kolonialgesellschaft legen auch die Memoiren eines aus Detmold stammenden Postbeamten mit dem Namen Friedrich Hunke nahe, der im Zuge einer Beförderung, vermutlich Ende der 1920er Jahre, nach Paderborn versetzt wurde. Er machte es sich die Neugründung einer Ortsgruppe der Deutschen Kolonialgesellschaft zur Aufgabe, da er wegen der Versetzung sein Amt als Vorsitzender der Abteilung Detmold nicht mehr wahrnehmen konnte und, so Hunke, es zu diesem Zeitpunkt noch keine Paderborner Abteilung gegeben habe. In seinen Memoiren schreibt er: „[H]ier wurde überhaupt zu meinem Bedauern für den kolonialen Gedanken nichts getan; das sollte anders werden“. Er packte sein Vorhaben folgendermaßen an:

„Es wohnten in der Stadt etwa 10 ehemalige Schutztruppler aus DSWAfrika [Deutsch-Südwestafrika], die sich als Gruppe dem örtlichen Kriegerverein angeschlossen hatten. Ich gewann sie allesamt als Mitarbeiter und gründete zusammen mit ihnen eine neue Ortsgruppe Paderborn der DKG [Deutschen Kolonialgesellschaft]. Es wurde alles gleich groß aufgezogen. Ich bat den General von Lettow Vorbeck, uns den ersten Kolonialvortrag in Paderborn zu halten, in der Hoffnung, mit Hilfe dieses bekannten und berühmten Kolonialsoldaten, den Kolonialen Gedanken in Paderborn Wecken [sic!] zu können. Ich wurde schwer enttäuscht. Das Interesse war gleich Null. Als ich einen Studienrat auf der Westernstraße ansprach und dafür warb, den Vortrag des Generals mit seinen Schülern zu besuchen, fragte er: ‚Wer ist überhaupt dieser Lettow-Vorbeck?‘. Der Vorverkauf war kläglich, es war zum Verzweifeln. Die Veranstaltung schien ein Fehlschlag und eine finanzielle Pleite werden zu sollen.
In der höchsten Not kam ich auf den Gedanken, den Garnisonsältesten von Paderborn fernmündlich anzurufen und ihn darauf hinzuweisen, dass dem großen Kolonialsoldaten die Gefahr drohe, vor leeren Bänken sprechen zu müssen. Das half; er versprach Beistand, wenn ich die Eintrittspreise für die Mannschaften herabsetzen würde. […] Der Auftakt war nicht schlecht, zumal die Presse über die Veranstaltung berichtete. Das Erste Gefecht war gewonnen.
Als nächsten Redner nahm ich den Weltumsegler, Kapitän Kircheiß, der bei der sportbegeisterten Jugend schon besser bekannt war. Sein volkstümlich gehaltener Vortrag war besonders wirksam. Wir gewannen allmählich an Boden und Ansehen. Meine 10 Schutztruppler arbeiteten immer eifriger mit und baten mich, ihnen eine Fahne zu stiften, damit sie in der Öffentlichkeit damit auftreten und auf diese Weise für den kolonialen Gedanken werben könnten. Ich stiftete Ihnen eine Karl Peters Fahne.“[12]

Die Erläuterungen Hunkes lassen sich einerseits anhand von Artikeln im Paderborner Anzeiger bestätigen, der in der Tat über die Vorträge berichtete. Paul Emil von Lettow-Vorbeck sei am 23. Oktober 1930 nach Paderborn gekommen, um in zwei Lichtbildervorträge über seine Erlebnisse in Deutsch-Ostafrika zu berichten.[13] Den Vortrag von Kapitän Carl Kircheiß datierte die Zeitung auf den 27. Januar 1930 (was Hunkes Datierung widerspricht, der sich erinnerte, zunächst Lettow-Vorbeck eingeladen zu haben).[14] Die Abteilung Paderborn der Deutschen Kolonialgesellschaft wird ausdrücklich als Veranstalterin des zweiten Vortragsabends genannt.

Die Unterlagen der Deutschen Kolonialgesellschaft in Berlin bestätigen Hunkes Ausführungen: Hier ging am 6. April 1934 ein ausgefüllter Fragebogen aus Paderborn ein.[15] Die Gründung der Paderborner Abteilung wurde darin auf 1929 datiert, was sich mit Hunkes Ausführungen deckt. Sie habe 35 ordentliche und 9 außerordentliche Mitglieder. Zu dem Zeitpunkt des Eingangs scheint allerdings bereits ein neuer Vorstand gewählt worden zu sein: ein Oberleutnant a. D. namens Dickhuth, über den keine weiteren Informationen zu finden sind. Schriftwart sei Zahnarzt Dr. Wilhelm Wegener, Kassenwart Steuersekretär Heinrich Bohnenberg. Dieser Fragebogen ist der letzte Hinweis auf die Deutsche Kolonialgesellschaft in Paderborn.

Die Gründung des Reichskolonialbundes

Am 11. September 1936 gründete die Nationalsozialistische Reichsregierung Deutschlands den Reichskolonialbund „zur Weckung und Vertiefung des Verständnisses für die koloniale Notwendigkeit“. Danach sollten sich alle zu dem Zeitpunkt bestehenden Kolonialgesellschaften und -vereine bis zum 15. November auflösen und ihre Mitglieder dazu veranlassen, als Einzelmitglieder dem Kolonialbund beizutreten, wie aus einer Rundschrift an die leitenden Beamte in der Region hervorgeht.[16] Ob zu diesem Zeitpunkt die Abteilung der Kolonialgesellschaft in Paderborn, die sich dann hätte auflösen müssen, noch bestand, ist nicht abschließend geklärt.

Mögliche Gründe für den Misserfolg der Deutschen Kolonialgesellschaft Abt. Paderborn

Warum die Kolonialgesellschaft in Paderborn nicht denselben Erfolg hatte wie in anderen deutschen Städten ist nicht ganz klar. Denn die Abteilungen in einigen westfälischen Nachbarstädten wie etwa Bad Oeynhausen waren, wie bereits erwähnt, deutlich beständiger.[17] Ein Grund könnte die wirtschaftliche Situation Paderborns gewesen sein, die vor allem durch Agrarwirtschaft und Kleinhandel geprägt war.[18] Damit liegt die Vermutung nahe, dass die Paderborner Bevölkerung kein Interesse an der Unterstützung eines an wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten Kolonialismus gehabt haben könnte. Da Paderborn außerdem lange ein katholisches Fürstbistum und die Bevölkerung mehrheitlich katholisch war, könnte auch darin ein Grund für das mangelnde Interesse an der Kolonialgesellschaft gesucht werden. Denn die frühe deutsche Kolonialpolitik war in erster Linie ein preußisches Projekt und damit im Rahmen des Kulturkampfes protestantisch geprägt.[19] Innerhalb der Kolonialgesellschaft lassen sich jedoch keine klaren Linien anhand von Konfessionen ziehen. So gab es neben protestantischen Mitgliedern auch prominente katholische – sowohl auf Bundesebene als auch in Paderborn. Auffällig ist jedoch, dass in Paderborn nur eine der beiden Tageszeitungen über die Veranstaltungen der Abteilung der Kolonialgesellschaft berichtete. Das Westfälische Volksblatt, das Organ der katholischen Kirche in Paderborn, das 1849 als Beiblatt zum „Westfälischen Kirchblatt für Katholiken“ gegründet worden war, schwieg sich über die Entwicklung der Paderborner Kolonialgesellschaft aus.[20]


[1] Bundesarchiv, Gründung der Deutschen Kolonialgesellschaft, Mai – Februar 1882, R 8023/256a, S 81.

[2] Zwar ist in dem Artikel von einem Kolonialverein die Rede, gemeint ist jedoch eine Kolonialgesellschaft; so nannte sich die Dachorganisation ab 1888.

[3] Paderborner Anzeiger, 02.12.1891.

[4] Deutsche Kolonialzeitung, 12.12.1891.

[5] Ebd., 2.4.1892.

[6] Bundesarchiv, Mitgliederbestand der Abteilungen der Deutschen Kolonialgesellschaft, 1888-1895, R 8023/731, S. 157.

[7] Deutsche Kolonialzeitung, 14.10.1893.

[8] Ebd., 13.10.1894.

[9] Ebd., 03.04.1909.

[10] Ebd., 23.03.1905.

[11] Bundesarchiv, Zusammenlegung der unter 50 Mitgliedern bestehenden Abteilungen der Deutschen Kolonialgesellschaft zu Wahlverbänden, April 1916 – November 1922, R 8023/715, S. 166.

[12] Staatsarchiv Detmold, Fried. Hunke Nr. 2, D72, Friedrich Hunke: „meine Lebenserinnerungen“.

[13] Paderborner Anzeiger, 4.10.1930.

[14] Ebd. 31.10.1930.

[15] Bundesarchiv, Fragebogen zur Aufstellung des Abteilungshandbuches der Deutschen Kolonialgesellschaft, März – Mai 1934, R 8023/740, S. 353 und S. 55.

[16] Stadt- und Kreisarchivarchiv Paderborn, Kolonialangelegenheiten [hier: Beitritt zum Reichskolonialbund], 1936, K – Kreis Büren A 1179. Rundschrift Nr.206/36, „Betrifft: Reichskolonialbund“.

[17] Siehe Anm. Nr. 10.

[18] Bedranowsky, Birgit: Neue Energie und gesellschaftlicher Wandel: Storm und Straßenbahn für das Paderborner Land (Paderborner Historische Forschungen, Bd. 12), Köln 2002, S. 68

[19]Camilleri, Nicola: Staatsangehörigkeit und Rassismus. Rechtsdiskurse und Verwaltungspraxis in den Kolonien Eritrea und Deutsch-Ostafrika (1882-1919), Frankfurt am Main 2021, S. 173f.

[20] Grabe, Wilhelm: Westfälisches Volksblatt, Paderborn 2019, https://zeitpunkt.nrw/ulbms/periodical/titleinfo/6898109 (zuletzt abgerufen am 29.09.2023)